INCORPORATION

2teilige Videoinszenierung (Closed Circuit), 2008
Ein Projekt in Zusammenabreit mit dem Künstlerhaus Marktoberdorf

Station 2 Meichelbeckstraße 18, 87616 Marktoberdorf

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Station 1 Kemptener Straße 5, 87616 Marktoberdorf

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Vor Ort: Kunst im Zeitalter ihrer musealen und medialen Halböffentlichkeit
Fußnoten zu "Incorporation" von Alexander Steig

Das technisch äußerst flexible Verhältnis der Live-Kamera zu ihrem Monitor oder Projektor macht die so entstehenden Wirklichkeitskonstruktionen zu einem besonders umworbenen künstlerischen Forschungsfeld. In den letzten fünfzehn Jahren wurden eine Vielzahl von publikumswirksamen Virtual- und Augmented-Reality-Kunstexperimenten, die sich dieser Technik bedienten, auf Anhieb angenommenen und ebenso schnell wieder verworfen. Als Kunstwerke scheiterten sie oft an ihrem Anspruch, eine möglichst einfalls- und ereignisreiche digitale Echtzeitverarbeitung des audiovisuellen Materials zu demonstrieren. Gemessen an der Realität der sich rasant entwickelnden Medienlandschaft (insbesondere der Computerspielindustrie) konnte der Anspruch der groß angelegten Medieninstallationen der neunziger Jahre, an die ‚frontiers of inquiry' zu gelangen und dort zu bleiben, auch nie erfüllt werden.
Die seit Mitte der neunziger Jahre entstehenden Videoinszenierungen von Alexander Steig sind im Vergleich eher als Lowtech-‚Mixed Realities' zu bezeichnen. Als Wirklichkeitskonstruktionen und Schnittstellen der ‚Deplatzierung' sind sie Modelle einer meist ‚verkehrten Welt', aber ihrem Selbstverständnis nach sind sie vor allem Orte medialer und musealer Halböffentlichkeit. Als solche sind die Installationen von Alexander Steig - typologisch gesehen - meist ortsspezifische Anordnungen, die besonders zu den ‚nichtmusealen' Ausstellungsumgebungen tendieren: Einkaufspassage, Kirchturm, Ministerium, Nervenklinikum, Dominikanerkloster oder Stadtfriedhof gehören zu den Orten, wohin es bislang den rastlosen und außerordentlich produktiven Künstler verschlagen hat. Die Grenzen zwischen Kunst und der ‚zitierten' Außenwelt verwischen dort tendenziell, wobei die Konvergenz mit der eigenen Lebenserfahrung eine Art Personifizierung der Lebenssituation entstehen lässt. Obwohl der Künstler zu den intimen, psychologischen, filmischen und literarischen Bezügen neigt und eher inhalts- sowie ortsbezogen arbeitet, entwirft er inhaltlich wie formaltechnisch ambivalente ‚Versuchsanordnungen', deren Kohärenz zwischen den Installationsteilen eine relativ leichte Realisierbarkeit auch in anderen Räumen und Kontexten erlaubt. Obwohl der künstlerische Hintergrund scheinbar verschwimmt, verweilt die Erwartungshaltung aus dem Kunstkontext heraus dennoch im Fokus der Aufmerksamkeit.
Auf diesem eigentümlichen Pfad zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Erwartung und Erfüllung betritt Alexander Steig mit seiner "Incorporation" im Künstlerhaus Marktoberdorf einen trotz ungewöhnlichen Sichtmauerwerk eindeutig ‚musealen' Ausstellungsbereich. Der fensterlose, durch Aufzugtüren und Türenöffnungen durchbrochene ‚Room without a view" mit einem äußerst transitorischen, ‚ungemütlichen' Charakter kehrt sich in der künstlerischen Intervention in sein scheinbares Gegenteil um: Kann aber eine ‚Sofalandschaft' mit Beistelltisch und einem Schreibtisch mit Stuhl und Tischlampe das Un-heimliche des Ortes ‚heimlich' machen oder es zumindest so wirken lassen? Die Rauminstallation wird bildlich ‚eingerahmt' und zugleich medial ‚eröffnet' von zwei einander gegenüber positionierten Live-Videoprojektionen. Sie zeigen das angrenzende, architektonisch eher ‚ausgelagerte' und für den Besucher unzugängliche Lager für Kunstgegenstände sowie einen Technikraum. Der einzige (möglicherweise trügerische?) Hinweis auf das Zeitvergehen in der Ereignislosigkeit des Videobildes liefert die im Kameradisplay eingeblendete aktuelle Uhrzeit und das Datum.
In die medial nur ‚halbvermittelte', weil ‚halbzugängliche' Halböffentlichkeit des ‚Kunstkellers' hinabgestiegen, betritt der Beschauer einen dieser (in seinen potenziellen Bedeutungen ebenso ‚halbschwebenden') "Un-Orte", wie sie der Künstler selbst nennt, einen dieser foucaultschen Orte der In-Diskretion, der ‚Mediatisierung', der Ver-Mittlung, einen jener Zwischen-Orte, die den Eindruck einer scheinbar paradoxen ‚alltäglichen Theatralik' hinterlassen. Es handelt sich dabei um eine jener "Heterotopien" oder nicht trivialen Raumarten, "die mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen anderen Platzierungen widersprechen".1 Im Unterschied zu den Utopien (Platzierungen ohne wirklichen Ort) gehören die "Heterotopien" zu den tatsächlich realisierten Utopien wie z. B. Kino, Nervenanstalt oder Freudenhaus. Dazwischen befinde sich Foucault zufolge als "eine Art Misch- oder Mittelerfahrung"2 der Spiegel: ein Zwitterartefakt oder "Ort ohne Ort", den Alexander Steig in seiner "Incorporation" zu einer live ‚gespiegelten' ‚Mixed Reality' werden lässt.
Der zweite Teil der Installation befindet sich in einem ehemaligen Ladenlokal, in dem der vorbeigehende Besucher die Möglichkeit hat, außerhalb des Künstlerhauses, bei einem Blick durch das Fenster auf zwei Monitoren die beiden Bilder der Projektionen des Künstlerhauses zu sehen. Das es sich hierbei nicht um Live-Übertragungen handelt, lässt sich für den Passanten nicht erkennen.
Margaret Morse beschrieb die Phänomene wie die Einkaufspassagen oder Schnellstraßen als "Virtualitäten", als Orte der "Virtualisierung" oder "Fiktionen der Präsenz", also als tatsächliche Re-Präsentationen, deren Effekt des ‚Eintauchens' in eine andere Welt meist durch die Kopräsenz zweier oder mehrerer, oft auch kontradiktorischer metapsychologischer Effekte erreicht wird.3 Alexander Steig spielt mit Orten des "verminderten Fiktionseffektes", indem er unsere Parcours minimal justiert und zur willkommenen Verwechslung oder Täuschung ‚freigibt': Die Erfahrenden sind zeitgleich Zeugen einer Live-Aktualität und einer konstruierten Potenzialität. Sie befinden sich mitten in einer ‚halbreflektierenden' ‚Kunst-Falle' (‚Künstlerfalle? Menschenfalle?), in einem eher trägen Verdauungsprozess der Kunst im Zeitalter ihrer medialen und musealen Halböffentlichkeit.
Eine solche künstlerische Aufbereitung von Systemmodellen und Verhaltensmustern und -ansichten beinhaltet also in der Regel auch eine implizite ‚Systemwertung', eine perspektivische Einstellung des Künstlers, unabhängig davon, auf welche Art der Wirklichkeitsinterpretationen man sich stützt. Der durch die Kunst ‚sakralisierte' Raum wird in Steigs Interpretation nun mit profanen Inhalten ‚desakralisiert' und zu neuem Leben erweckt. Oder bzw. wie lange - fragt man sich wohl zu Recht, angesichts der eher skeptisch wirkenden, unpersönlichen und theatralen Intervention - wird der ‚Nobelfriedhof' der musealen Institution wirklich ‚aufgeweicht' durch eine ‚weiche' Sofalandschaft?
Der inszenatorische, bühnenhafte Charakter der "Incorporation" von Alexander Steig formt sich auch mit seiner zurückhaltenden Schwarz-Weiß-Ästhetik der Videobilder zu einer übergreifenden Ästhetik des Vergangenen und dennoch Provisorischen, Unfertigen.
Die künstlerische Methode der inszenierten psychologischen, physischen, temporalen, topologischen, ‚realen' wie ‚medialen' Unzugänglichkeit, wie sie in Steigs Installationen "Über den Grund des Vergnügens junger Mäuse an schrecklichen Gegenständen" (1999) oder "Fernsehzimmer (doppelt)" (2002) sowie "break" (2002) (um nur einige zu nennen) zum Tragen kommen, werden in Marktoberdorf - halbzugänglich - ‚inkorporiert', so dass der reale Raum als experimentelle Anordnung erscheint, während das 1 : 1-Modell nicht unbedingt realer wirken muss als beispielsweise das stark verkleinerte Modell des Autokinos aus der Installation "One Spider Show" (1999). Ein ‚dokumentarisches' Medium wird als Medium der Außerkraftsetzung von Größen und Verhältnissen inszeniert, vor allem aber auch als Medium der Intervention, Personifizierung und Annäherung.4
Alexander Steig löst in seiner ortsspezifischen, aus dem künstlerisch-musealen Raum in die Stadtumgebung hineinwirkenden Auftragsarbeit nicht nur die durch das Ausstellungskonzept und den Ausstellungstitel ("Von hier aus") suggerierte Aufgabe; er löst darüber hinaus - souverän und elegant - den Widerspruch zwischen der Realität der Einschränkung und dem eigenen künstlerischen (Autonomie-)Anspruch - inmitten urbaner, musealer und medialer Halböffentlichkeit.

Slavko Kacunko, November 2008 (Textbeitrag aus dem Katalog VON HIER AUS, Künstlerhaus Marktoberdorf, 2008)

1 Michel Foucault, "Andere Räume", in: KAT. Poetics/Politics. Das Buch zur documenta X; Cantz Verlag, Ostfildern, 1997, S. 262-272, S. 265. (Urspr. aus: AISTHESIS. Wahrnehmungen heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991; dt. Erstveröffentlichung; Idee, Prozeß, Ergebnis, Berlin, 1984; fr. 1966)
2 Ebd., S. 266.
3 Margaret Morse, "Virtualities. Television, Media Art, and Cyberculture"; in: Indiana University Press, Bloomington/Indianapolis, 1998, S. 99.
4 Vgl. Mark Rosenthal, Understanding Installation Art. From Duchamp to Holzer, München / Berlin / London / New York 2003

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